Dr. Amal Daraghmeh Masri

"Die sozialen Kontakte fehlen sehr“ – Interview mit Dr. Amal Daraghmeh Masri


Die Corona-Pandemie habe tiefgreifende Auswirkungen auf die palästinensische Wirtschaft, sagt die Wirtschaftsexpertin aus Ramallah im Westjordanland. Arbeitslosigkeit und Armut seien gestiegen. Betroffen seien vor allem Frauen.

Dr. Amal Daraghmeh Masri (ADM) leitet in Ramallah eine Marketing- und Kommunikationsfirma und engagiert sich in verschiedenen lokalen und internationalen Netzwerken für die Rechte und die Förderung von Frauen in der Wirtschaft. Das Interview mir ihr führte unsere Geschäftsführerin Sybille Oetliker (SO).

SO: Im Februar 2020 wurden erste Corona-Fälle in Bethlehem bekannt. Seither kam es im Westjordanland immer wieder zu Lockdowns, Restriktionen und Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Was sind die Folgen für die palästinensische Gesellschaft? 

ADM: Die Menschen leiden sehr unter den fehlenden sozialen Kontakten. In Palästina trifft man sich oft in der Großfamilie. Diese Treffen konnten wegen der Social-Distancing-Regeln nicht mehr stattfinden, Hochzeiten und andere Familienfeste mussten verschoben werden. Das belastet alle sehr. Zudem hat die häusliche Gewalt leider zugenommen – vor allem dort, wo die Menschen in ärmlichen Verhältnissen sehr eng zusammenleben müssen. 

SO: Regierungen auf der ganzen Welt stehen vor dem Dilemma: Wie die Gesundheit der Bevölkerung schützen ohne das Wirtschaftsleben allzu sehr zu bremsen. Ist die Gratwanderung gelungen? 

ADM: Die palästinensische Wirtschaft hat schon sehr gelitten. Das ist umso schlimmer, als unsere Wirtschaft wegen der anhaltenden israelischen Besatzung eh schon geschwächt ist. Das Bruttoinlandsprodukt ging im Jahr 2020 um 12 Prozent zurück. Arbeitslosigkeit und Armut sind angestiegen. Hier sind leider die Frauen besonders betroffen. Sie arbeiten oft in unsicheren Verhältnissen und mussten sich während der Lockdowns, oder wenn Schulen und Kindergärten geschlossen waren, um die Kinder kümmern.

SO: Welche Sektoren waren besonders betroffen? 

ADM: Bau, Industrie, Landwirtschaft und dann natürlich in Orten wie Bethlehem der Tourismus. Infolge der Corona-Pandemie war die Mobilität innerhalb des Westjordanlandes sehr eingeschränkt. Es gab gerade rund um die Siedlungen vermehrt Kontrollen, und viele Erwerbstätige in prekären Verhältnissen verloren ihre Stelle, weil der Transport zum Arbeitsort nicht mehr möglich war. Dies auch weil der öffentliche Verkehr unterentwickelt ist und viele Menschen es mieden, in überfüllten Bussen zu fahren.

SO: Haben sich durch die Krise auch neue Nischen in der Wirtschaft eröffnet? 

ADM: Die Online-Aktivitäten haben stark zugenommen. Zum einen gab es viele Angebote für Weiterbildungen, zum andern haben sich gerade kleine Familienbetriebe, von denen es in Palästina viele gibt, als sehr kreativ erwiesen und damit angefangen, ihre Produkte online zu vermarkten. Es hat sich aber leider gezeigt, dass dies mitunter sehr schwierig ist. Straßen und Verkehrsmittel sind nicht gut ausgebaut, dazu kommen die vielen Checkpoints zwischen den palästinensischen Orten, die dazu führen, dass immer wieder Umwege gefahren werden müssen. Das verlangsamt und verteuert den Warenaustausch sehr. 

SO: Wie beurteilen Sie die Aussichten für 2021? 

ADM: Es wird sicher noch lange dauern, bis wir wieder wie vor der Pandemie leben. Aber die Leute hier haben gelernt, sich mit der Situation zu arrangieren. Viele sind vorsichtiger geworden, weil niemand weiß, wie lang die Krise anhält. Daher vermute ich, dass in den kommenden Monaten noch nicht viel investiert wird. Die Unsicherheit bleibt zu groß und viele müssen sich beruflich umorientieren. Im Tourismus zum Beispiel steht ein großer Umbruch an.

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