Dr Hiyam Marzouqa

Chefärztin des Caritas Baby Hospital im Interview mit dem Ärzteblatt


Im Interview spricht die erfahrene Ärztin über die medizinische Versorgung in der Region Bethlehem, über die häufigsten Krankheitsbilder im Caritas Baby Hospital und darüber, wie spezialisierte Kolleg_innen aus dem Ausland das Kinderkrankenhaus unterstützen können.

Frau Dr. Marzouqa: Welche Krankheitsbilder sehen Sie, die Sie aus Ihrem deutschen Medizinstudium nicht kennen?

Dr. Hiyam Marzouqa: Wir haben sehr viele neurologische Fälle. Hier heiraten die Familien untereinander, Cousinen und Cousins ersten Grades. Und das wird immer gravierender, weil das schon die Groß- und Urgroßeltern so handhabten. Von vielen dieser Erkrankungen hatte ich zuvor nie gehört oder sie wurden in den Büchern wenig beschrieben. Als ich 1990 zurückkehrte – ich habe dank eines Stipendiums in Würzburg studiert – sah die Medizin hier überhaupt anders aus. Viele Kinder waren massiv unterernährt. Auch kamen Neugeborene mit 28 Grad Körpertemperatur zu uns – nicht durch Schneeunfälle oder Beinahe-Ertrinken, sondern sie froren im eigenen Bett, weil Familien zu wenig zum Heizen hatten. Solche Formen der Unterkühlung waren mir ebenfalls neu.

Haben sich die Zustände verbessert?

Dr. Marzouqa: Teilweise. Die Armut zählt immer noch zu den größten Problemen. Auch haben wir nicht genügend gut ausgebildete Ärzte, die schnell diagnostizieren können. Die Mütter sind meistens jung und besitzen keine Erfahrung, sodass sie Krankheiten oft zu spät erkennen. Zudem sorgt die Vielzahl an Kindern in einer Familie nicht für die beste Lebensqualität. Aber: Es gibt einen gewissen Fortschritt. So studieren an der Uni von Bethlehem inzwischen viele Frauen. Dennoch sehen wir immer wieder Kinder, die nicht zunehmen. Leider ist auch die Zahl der Erbkrankheiten nach wie vor hoch. Es gibt ein ganzes Dorf, in dem viele Träger des Gens der Stoffwechselkrankheit Methylmalonazidämie sind.

Wie viele Ärzte arbeiten bei Ihnen? Wie viele Betten gibt es?

Dr. Marzouqa: Wir sind zwölf Assistenzärzte und fünf Fachärzte, alle aus dem Westjordanland. Es gibt 74 stationäre Betten, 22 für Neugeborene, neun auf der Intensivstation, davon vier für Pediatric Intensive Care und fünf für Neonatal Intensive Care. In den nächsten fünf Jahren sollen weitere sieben Intensivbetten hinzukommen. Denn daran mangelt es in Palästina besonders. Der meiste Betrieb herrscht im Ambulatorium. Hier halten zudem konsularische Ärzte ein- oder zweimal in der Woche Spezialsprechstunden zum Beispiel für herzkranke Kinder, orthopädische, gastroenterologische, nephrologische und urologische Probleme ab. Ansonsten sehen wir dort die normalen Kindererkrankungen wie Bronchitis, Bronchiolitis. Im Moment grassiert das RS-Virus, aber auch Influenza. Im Sommer häufen sich Magen-Darm-Infektionen.

Werden Sie von Ärzten aus dem Ausland unterstützt?

Dr. Marzouqa: Ja, wir werden super unterstützt, vor allem auf den Gebieten mit den meisten Erkrankungen: Pneumologie, Neurologie und Intensivmedizin. Hierfür haben wir uns in den letzten drei Jahren gezielt Kollegen aus dem Ausland gesucht. Bei den Lungenerkrankungen hilft uns ein Kollege aus St. Gallen, bei den neurologischen Leiden Medizinerinnen und Mediziner aus Süddeutschland und was die Intensivmedizin betrifft, bekommen wir Support aus Italien.

Wie sieht das aus?

Dr. Marzouqa: Wir kontaktieren diese Fachleute in schwierigen Fällen, wenn wir für Diagnosestellung und Therapieplan Hilfe brauchen. Sie übernehmen genetische Untersuchungen und haben auch metabolische Labore, die es hier nicht in dem Maße gibt. Auch Blutproben für Spezialuntersuchungen dürfen wir zu ihnen schicken sowie MRTs zum Befunden. Wir können diese zwar auch lesen, aber das Know-how und die Erfahrung in Europa ist besser. Dann diskutieren wir die Befunde gemeinsam. Gerade was Gen-Analysen betrifft, können wir inzwischen viele Diagnosen stellen, was uns vorher so nicht möglich war. Wir wussten beispielsweise nur, dass ein Kind eine neurologische Erkrankung hat und beeinträchtigt bleiben wird. Doch die Kenntnis, um welches spezielle Gen es sich handelt, fehlte. Heute können wir insofern auch Familien besser beraten und ihnen sagen, ihr sollt nicht untereinander heiraten, ihr habt dieses Gen. Und wenn eine Frau schwanger ist, können wir sie auf dieses Gen untersuchen. So kann man viel besser behandeln.

Wo sind Ihnen Grenzen gesetzt?

Dr. Marzouqa: Patienten, die eine komplizierte Operation zum Beispiel am Herzen benötigen, können wir nach Jerusalem bringen. Das muss aber gut koordiniert werden, denn für die Verlegung aus den palästinensischen Autonomiegebieten in die dortige Klinik braucht es eine Erlaubnis. Wir stehen in einer guten Beziehung zu den israelischen Behörden, damit das so schnell wie möglich klappt und schaffen es heute in zwei bis drei Stunden. Früher mussten wir auch ein intubiertes Kind in unserem Krankenwagen zum Checkpoint bringen und es dann in einen Krankenwagen aus Jerusalem umbetten. Seit vier Jahren holen sie Kinder jetzt direkt bei uns ab. Das ist eine große Erleichterung.

Wie gefährlich ist es in Bethlehem? Haben Sie auch schon Kinder behandelt, die durch Attentate oder Waffen verletzt wurden?

Dr. Marzouqa: Bethlehem ist friedlich und sicher. Ich ärgere mich oft über verallgemeinernde Nachrichten, die suggerieren, wir leben hier im Kriegs-Zustand. Das stimmt nicht. Natürlich gibt es diese Ecke an der Grenzmauer, in der immer wieder demonstriert wird, nach einem Konflikt oder einer Schießerei. Aber das beruhigt sich nach einem Tag wieder. Und nein, wir sind ein internistisches Krankenhaus und haben keine Chirurgie. Bei solchen Demonstrationen ist meist ein Krankenwagen vor Ort, der verletzte Jugendliche zu einer chirurgischen Abteilung bringt. Wir haben aber schon Neugeborene mit Sauerstoff und Inhalation versorgt, die Tränengas abbekommen haben.

Welche Hilfe leisten Sie noch?

Dr. Marzouqa: Wir schauen uns die Kinder nach dem Holistic-Approach-Prinzip ganzheitlich an. Das ist vor allem bei schwierigen Fällen wichtig, wie bei einem behinderten Kind, das ständig Anfälle hat und dauerhaft Medikamente bekommen soll. Bei solchen chronischen Belastungen geben die Eltern manchmal auf oder werden mit der Zeit müde. Daher werden sie von unseren Sozialarbeitern begleitet. Sie bekommen zudem eine Karte, mit der sie kaum oder nur symbolisch etwas bezahlen müssen und die Medikamente umsonst bekommen. Auch haben wir in unserer Mütterschule Übernachtungsmöglichkeiten für bis zu 47 Frauen, in denen sie schlafen können und beraten werden. In diesem Trakt halten wir zweimal am Tag Vorträge. Dadurch werden die Mütter zu Multiplikatoren in ihrem Dorf.

Gibt es etwas Vergleichbares wie U-Untersuchungen bei Ihnen?

Dr. Marzouqa: Wir haben Public-Health-Mitarbeitende in den Dörfern. Unsere Regierung hat viel dafür getan, dass jeder Ort eine kleine Klinik hat, in der auch die Frühversorgung gut laufen sollte. Es ist noch nicht ideal oder so gut geregelt wie eure U-Untersuchungen, aber es wird weiter ausgebaut. Auch bitten wir die Eltern stets zu Follow-Up-Untersuchungen und meistens erscheinen sie auch. Und: Wir führen bei allen Babys ab dem ersten Monat prophylaktische Untersuchungen durch, wie Hör-, Hüft- und Ultraschall. Wir versuchen also ein Reglement da rein zu bekommen, aber manchmal tauchen die Eltern doch erst auf, wenn die Kinder erkrankt sind.

Die Mütter der Schmetterlingskinder unterstützen sich

Wie funktioniert die Nachsorge? Fahren Sie in entlegene Gebiete?

Dr. Marzouqa: Wir haben ein spezielles Homecare-Programm gestartet, das aber noch nicht richtig etabliert ist. Nur in manchen Fällen, wenn Eltern nicht mit einem Kind zu uns kommen wollen, besuchen Ärzte die Familie, zum Beispiel um einen kleinen Patienten mit Hirntumor zu versorgen. In der Regel gehen Sozialarbeiter in die Häuser, um sich zu vergewissern, dass die Kinder, nachdem sie entlassen wurden, gut versorgt sind, aber auch um zu schauen, ob die Eltern wirklich arm sind. Wenn sie Bedarf sehen, schalten wir uns ein.

Wie ist die Finanzierung der Klinik geregelt?

Dr. Marzouqa: Im Moment werden wir zu rund 65 Prozent über Spenden finanziert, der Rest kommt von den Eltern. In Palästina gibt es eine private Krankenversicherung. Zumeist sind aber nur die Leute darüber abgesichert, die angestellt sind, wo der Arbeitgeber die Hälfte der Versicherungskosten bezahlt. Zudem existiert eine allgemeine staatliche Krankenversicherung. Die kostet ungefähr 1000 Schekel im ganzen Jahr, also rund 250 Euro. Aber nicht alle nehmen sie in Anspruch, entweder, weil sie es sich nicht leisten können oder wenig Vertrauen in staatliche Krankenhäuser haben. Doch, egal ob die Eltern Geld haben oder nicht, bei uns wird jedes Kind bestmöglich behandelt.

Sind Sie an weiteren Ärztinnen und Ärzten für Volunteer-Einsätze interessiert? Was müssten die mitbringen?

Dr. Marzouqa: Ja. Allerdings brauchen wir Leute, die auf einem Gebiet große Erfahrung haben. Wir haben genug Allgemeinärzte fürs Ambulatorium, aber nicht für Spezialbereiche. Wer interessiert ist, kann mir gern direkt schreiben an die info@cbh.ps. Ich kläre dann mit jedem einzelnen, ob es sinnvoll ist.

Was sind die besonderen Herausforderungen für ausländische Ärzte im Umgang mit der arabischen Kultur?

Dr. Marzourqa: Man sollte kultursensibel sein und die lokalen Mitarbeitenden nicht belehren nach dem Motto „ich weiß alles“. Besser ist erst zu beobachten, was es hier gibt, zu sagen „ihr macht tolle Arbeit“ und dann schauen, was noch fehlt. Wir besitzen schon viel Wissen und haben wirklich tolle Fortschritte auf jedem Gebiet gemacht, aber wir wollen noch sicherer werden. Auch geht hier alles nicht so flott wie bei euch. Man muss Geduld mitbringen. Wenn mir zum Beispiel ein Kollege ein Gerät empfiehlt, dauert es, bis ich herausgefunden habe, wo ich es finde. Und wenn es da ist, braucht es Zeit, bis die Techniker es in Betrieb bringen. Beachtet man das, klappt es prima. Unsere freiwilligen Unterstützer wurden von allen mit viel Freude aufgenommen und wir waren immer sehr dankbar, dass ihr gekommen seid.

Und wo wohnen diese Ärzte dann? Wie lebt es sich in Bethlehem?

Dr. Marzouqa: Auf dem Klinikgelände stehen Studios für Besucher bereit. Und man kann sehr gut leben in Bethlehem – und lecker essen. Mit einem ausländischen Pass können Sie zu jeder Zeit überall hinreisen: zum Hiking in die Berge – der Israel National Trail gilt laut National Geographic als einer der zehn schönsten Fernwanderwegen der Welt – oder ans Meer nach Haifa oder Jaffa. Auch Jerusalem liegt nur zehn Kilometer von uns entfernt.

Warum sind Sie nach dem Studium zurückgegangen?

Dr. Marzouqa: Heimat ist Heimat, meine Eltern und Großeltern stammen aus Bethlehem. Ich komme aus einer christlichen Familie, wir waren sieben Kinder. Mein Vater hat gesagt, wir sollen uns nicht in die Politik einmischen, aber unserem Land durch Wissen dienen. Fünf von uns haben im Ausland studiert, alle kamen zurück und jeder erfüllt an einer wichtigen Stelle nun seine Aufgabe. Ich liebe meine Arbeit und bin froh, dass ich die Hochzeiten von meinen Geschwistern erlebt habe und die Taufe von allen Kindern der Familie. Aber ich kann alle Palästinenser verstehen, die nicht zurückkehren. Man ist hier schon benachteiligt, kann sich nicht frei bewegen und hat keine Perspektive auf bessere Zeiten. Die politische Situation ist aussichtslos.

Weihnachten im Caritas Baby Hospital

Was war ein besonderer kleiner Patient?

Dr. Marzouqa: Es gibt immer wieder schöne Erlebnisse. Wir hatten einmal ein achtjähriges Mädchen mit Leberversagen aufgrund einer Stoffwechselerkrankung. Wir hofften noch auf eine Transplantation, die ist hier aber kaum möglich und so starb sie. Und dann kam eine weitere Achtjährige mit Leberversagen und wir dachten, jetzt verlieren wir noch ein Kind. Sie wurde zwei, drei Tage beatmet und dann las ein Kollege, dass Kinder auch durch Influenza ein Leberversagen bekommen können und manche sich erholen würden. Und siehe da, der Test war positiv. Sie hat ihre Augen wieder geöffnet und ist aus dem Sterben aufgewacht. Dieses Bild geht mir nicht aus dem Kopf. Das war eine Feier im Krankenhaus!

Was passiert zu Weihnachten in Bethlehem?

Dr. Marzouqa: Die Aktivitäten fangen schon zwei Wochen vorher an. Musikgruppen aus dem Ausland geben Konzerte auf der Straße. Überall sind Weihnachtsmänner, die Bonbons verteilen. Am 24.Dezember vormittags gibt es einen Zug von Pfadfindern, die den Patriarchen empfangen und zur Geburtskirche von Jesus laufen. Die Menschen strömen sogar aus den Dörfern im Norden hierher. Und das Beste ist, dass wir dreimal Weihnachten feiern: mit der Lateinischen Kirche am 24./25. Dezember, mit der Orthodoxen Kirche am 6./7. Januar und mit der Armenischen Kirche am 18./19. Januar. Auch in unserem Ambulatorium steht ein großer Christbaum und in jeder Abteilung ein kleiner. Wir schmücken alle Stationen und verteilen Präsente auf allen Betten. Chronisch erkrankte Kinder, die das Krankenhaus zu gut kennen, behaupten dann, sie hätten ausgerechnet an dem Tag Fieber…, um das Weihnachtsgeschenk nicht zu verpassen.

Wo lassen Sie Ihre Belastungen?

Dr. Marzouqa: Ich zünde regelmäßig in der Geburtskirche eine Kerze an und bete für die Kranken und Benachteiligten. Das beruhigt mich, das ist meine Therapie. Ich mache das auch immer wieder für alte Studienfreunde oder Bekannte von Bekannten aus Deutschland, die Erkrankte in der Familie haben und mich darum bitten.

 

Das Interview führte Gerti Keller. Es wurde am 19. Dezember 2022 auf Ärzteblatt.de veröffentlicht.

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